Im Gespräch mit
Prof. Dr. Alena Buyx

Professorin für Medizinethik und Direktorin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin, Technische Universität München

»Wenn der Wissenschafts­journalismus aussterben würde, hätten wir tatsächlich ein Übersetzungs­problem«,

sagt Prof. Dr. Alena Buyx, Professorin für Medizinethik und Direktorin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin, Technische Universität München.

Veröffentlicht am 11. Dezember 2020

Prof. Dr. Alena Buyx

Prof. Dr. Alena Buyx ist Direktorin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin sowie Professorin für Ethik der Medizin und Gesundheits­technologien an der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität München TUM. Seit Mai 2020 ist sie Vorsitzende des Deutschen Ethikrates. Sie setzt sich aktiv für eine transparente Kommuni­kation in der öffentlichen Debatte ein.

Volker Stollorz

Volker Stollorz
ist Geschäftsführer des 2015 gegründeten Science Media Center Germany (SMC). Seit 1991 berichtete der Wissenschafts­journalist aus Leidenschaft über die Reibungszonen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft.

Volker Stollorz: Sie haben auf Ihrer Instituts-Webseite viele Auftritte in journalistischen Medien verlinkt - neben Ihren wissenschaftlichen Publikationen. Wie wichtig ist es Ihnen, öffentlich zu wirken als Forscherin?

Alena Buyx: Das ist eine wirklich schwierige und auch immer wieder neu herausfordernde Frage. Auf unserer Webseite, die jetzt schon lange nicht mehr gepflegt wurde, weil wir da gar nicht mehr hinterhergekommen sind, haben wir initial tatsächlich in der Pandemie zeigen wollen, dass sich das Institut äußert zu diesen Fragestellungen. Denn für viele Medizinethiker, die sich mit der sogenannten Public-Health-Ethik beschäftigen, also mit Fragen der öffentlichen Gesundheit, waren diese Fragen nicht neu. Wir waren eingedacht, wir waren mit dieser Art von Dilemmasituation zumindest in der Theorie vertraut und deswegen konnten wir relativ schnell relativ kompetent etwas sagen. Ich habe meinen Magister zu Rationierung im Gesundheitswesen geschrieben, also unter anderem zu Gerechtigkeitsfragen in der klinischen Praxis: Wer soll jetzt das letzte Beatmungsgerät kriegen? Ich kann mich noch erinnern, ich habe immer gedacht, das wird bei uns nie passieren, das ist ein philosophisches Glasperlenspiel, aber natürlich irgendwie spannend und interessant das durchzudenken. Und dann wurde das auf einmal so praktisch relevant. Viele Medizinethiker konnten deswegen relativ schnell öffentlich Stellung beziehen und Debatten erklären, strukturieren. Mir war wichtig zu zeigen, wir arbeiten nicht nur im stillen Kämmerlein an unseren Ideen und Überlegungen, sondern wir haben etwas für die Öffentlichkeit, für politische Entscheidungen beizutragen. Das war so eine Art bürgerlicher Impuls und auch der Impuls einer Verantwortung, wenn ich etwas beitragen kann in dieser außerordentlichen Zeit der Krise, dann sollte ich das tun.

 
 

Was wollen Sie genau erreichen, wenn Sie öffentlich als Forscherin hinaustreten, die ja nicht in die Öffentlichkeit muss, außer als Vorsitzende des Deutschen Ethikrats?

Ich glaube, wir haben eine Verantwortung als Wissenschaftler, das zu tun. Nicht jeder Wissenschaftler persönlich, aber als Wissenschaft sind wir ein öffentlich gefördertes Unterfangen. Wir haben daher die Verantwortung, auch der Öffentlichkeit in der Hinsicht etwas zurückzugeben. Gerade diejenigen von uns, die in Fächern arbeiten, denen es ja primär um das Verstehen geht und letztlich auch um das Erklären haben da nochmal eine besondere Verantwortung. Und wenn man feststellt, man kriegt das ganz gut hin, auch schwierige Dinge verständlich darzustellen, dann macht man es natürlich auch gern, auch wenn es sehr viel Aufwand ist, weil man vielleicht den Eindruck hat, man kann etwas erreichen, man kann damit einen Effekt haben.

Die Profession, die sich ständig mit Wissenschaft beschäftigt, ist ja der Wissenschaftsjournalismus. Wie wichtig finden Sie den?

Ich finde ihn extrem wichtig und ich muss sagen, ich genieße auch immer Interviews mit Wissenschaftsjournalisten, die funktionieren anders. Meistens ist ein bisschen mehr Zeit, das ist jetzt gerade in der letzten Phase sicherlich nicht mehr so der Fall, aber meistens ist etwas mehr Zeit, sich mit den Themen auseinander zu setzen. Und natürlich ist bei vielen Wissenschaftsjournalisten ein Wissens-Hintergrund da, also ein Verständnis für die Dinge, die besprochen werden. Man begegnet sich auf Augenhöhe. Und nicht, dass man sich mit anderen Journalisten nicht auf Augenhöhe begegnet, aber man ist thematisch oft weit auseinander und man muss dann erst einmal eine gemeinsame Ebene finden. Und das ist beim Wissenschaftsjournalismus etwas anderes. Viel wichtiger als diese interpersonellen Dinge ist aber die Rolle, die Wissenschaftsjournalismus spielt. Denn Wissenschaft zu vermitteln ist einfach schwierig. Die ist oft kleinschrittig, manchmal widersprüchlich, schwer nachzuvollziehen. Die Fachsprachen sind kompliziert zu verstehen, das ist einfach sehr schwer in die Öffentlichkeit zu bringen. Und da ist der Wissenschaftsjournalismus eine Brücke, um diese Komplexität und Dichte und Tiefe der Wissenschaft so zu transportieren, dass interessierte Leserinnen und Leser oder Hörerinnen und Hörer oder Zuschauerinnen und Zuschauer das tatsächlich mit Genuss und Gewinn mitnehmen können. Das halte ich für eine zentral wichtige Funktion in einer Wissenschaftsgesellschaft, die wir ja nach wie vor und vielleicht auch immer stärker sind.

 

Im Anne Frank Zentrum, Berlin

Ich finde der Soziologe Rudolf Stichweh hat das in der Corona Pandemie schön gesagt. Er hat gesagt, das sei ein Weltereignis in der Weltgesellschaft. Mit Bezug auf den Journalismus und die Massenmedien hat er gesagt, wenn alle betroffen sind, dann müssen eben auch alle verstehen, was passiert.

Das Herausforderndste im Moment ist, dass wir etwas in Echtzeit in extremer zeitlicher Verdichtung erleben, was sonst Jahre oder Jahrzehnte dauert. Und damit meine ich auch die Krisenhaftigkeit, diese ethischen Konflikte, die wir haben. Wieviel dürfen wir dem Individuum an Freiheitsrechten wegnehmen und wie stark dürfen wir Grundrechte einschränken zugunsten von Gesundheitsschutz und anderen Zielen? Wie schaffen wir es, eine halbwegs solidarische Umverteilung von Belastungen in der Gesellschaft zu gestalten? Das sind Fragen, die haben wir ja auch sonst auch. Nur haben wir sie jetzt in einer Dringlichkeit und Schnelligkeit, die wir als Gesellschaft nicht gewöhnt sind. Und da legen die Medien die Brennlupe drauf, die zeigen das einfach. Es gibt ja diesen alten Witz, niemand sollte wissen, wie Würste und Gesetze gemacht werden. Und im Moment kann man im Prinzip in Echtzeit zuschauen, wie Wissenschaft funktioniert, sozusagen »warts and all«, wie die Briten sagen.

 
 

Sie haben einmal gesagt, die Politik muss auf die Wissenschaft hören, ihr aber nicht hörig sein. Was heißt das für Sie genau?

Den Satz habe ich von meinem Vorgänger Peter Dabrock geklaut. Das bedeutet, ihr müsst auf uns hören, ihr müsst wissenschaftliche Fakten, wissenschaftliche Unsicherheit und wissenschaftliche Arbeit aufnehmen in eure Entscheidungsfindung. Aber nur aus der Wissenschaft, schon gar nicht nur aus bestimmten Wissenschaften, können nicht direkt Antworten für die Politik abgeleitet werden. Es kann keinen Imperativ geben aus einer Wissenschaft, die sozusagen vorentscheidet, was die Politik tun soll. Denn Politik handelt aus, wie wir alle gemeinsam miteinander leben. Und da kommen zunächst mal sehr viele unterschiedliche Wissenschaften zum Tragen. Am Anfang haben wir natürlich sehr intensiv in der Pandemie auf die Virologie geschaut, auf die Epidemiologie und auf medizinische Wissenschaften.
Aber es gibt auch die, die sich mit ethischen, mit rechtlichen, mit sozialen Fragen usw. beschäftigen. Also schon da muss die Politik eine Pluralität wahrnehmen. Und hinzu kommen dann eben Fragen, die mit Wissenschaft nicht direkt zu tun haben, sondern einfach damit, wie unser Gemeinwesen organisiert ist, wie Maßnahmen kommunizierbar sind, wie Maßnahmen umsetzbar sind, welche Folgeprobleme Maßnahmen haben könnten, wie die mit anderen Entscheidungen zusammenhängen und so weiter und so fort. Das heißt, die Wissenschaft ist ein ganz, ganz wichtiges Fundament für diese Art von Entscheidungsfindung, aber sie kann nicht das einzige Fundament sein.

Im Futurium, dem Haus der Zukünfte, Berlin

Nehmen wir einmal an, Gedankenexperiment, der Wissenschaftsjournalismus würde einfach aussterben, die Profession gäbe es nicht mehr. Was würden Sie denken, was passierte dann im öffentlichen Raum, in dem Bereich, den Sie überblicken?

Das fällt mir wirklich schwer vorzustellen, weil ich glaube, dass er nicht aussterben könnte, weil er einfach notwendig ist. Dann würden die Wissenschaftler das sozusagen versuchen zu kompensieren und dann würde der Beruf wieder neu entstehen aus der Wissenschaft heraus, glaube ich. Aber ich versuche mich einmal auf dieses Gedankenexperiment einzulassen. Ich glaube, wir hätten dann tatsächlich ein Übersetzungsproblem. Da gäbe es eine Lücke, eine Fallhöhe zwischen dem, was die Wissenschaft sagt und veröffentlichen möchte und dem, was in der Öffentlichkeit und auch in der Politik und in der Gesellschaft insgesamt ankommt. Und das birgt Gefahren, denn dann steht es unverbunden nebeneinander. Und das bedeutet natürlich immer, dass sich dann diejenigen, die sich dann direkt aus der Wissenschaft Nachrichten holten, mit denen so ein bisschen tun könnten, was sie wollten. Sie würden sie vielleicht nicht wirklich in einen Kontext einordnen, sondern Interpretationsspielräume nutzen. Es könnte auch passieren, dass die Wissenschafts­nachrichten, die dann kommen, einfach nicht berichtet werden und untergehen. Etwa bestimmte Fragestellungen, für die man eine Kenntnis haben muss, ein Vorwissen, um sie einordnen zu können. Da würde ich mir große Sorgen machen, dass da vieles einfach runterfällt. Ein konkretes Beispiel: Ich glaube, wenn wir Wissenschaftsjournalismus nicht hätten, dann würden Studien, die im Moment publiziert werden und die z.B. bestimmte Maßnahmen der Pandemie untersucht haben, also was passiert jetzt in den Restaurants wirklich, was passiert in den Fitnessstudios oder was passiert mit Kindern in Schulen und in Kitas. Die würden dann entweder ignoriert, obwohl sie einen wichtigen Datenpunkt darstellen, oder aber sie würden wiederum überhöht werden in ihrer Geltung. Und beides ist nicht gut. Es braucht eben diese Balance von jemandem, der weiß, da werden noch andere Datenpunkte kommen und das zusammenbauen kann, aber der oder die auch nicht einfach ignoriert, wenn ein wichtiger Datenpunkt aufkommt.

 

Ich finde es persönlich als Geschäftsführer des Science Media Center toll, dass Sie sich an unserer Initiative »Together for Fact News« bewusst beteiligen. Wenn Sie den Spruch hören »Together for Fact News«, was klingt da bei Ihnen an als Medizinethikerin?

Also da ich zur Solidarität arbeite, ist mir alles, was mit Gemeinsamkeit, Zusammengehörigkeit zu tun hat, schon einmal sympathisch. Aber ich habe da auch einen wichtigen, spezifischeren, inhaltlichen Punkt dabei. Fake News haben sich aus kleinen dunklen Ecken verbreitet in den Mainstream, das muss man einfach so sagen. Und das ist ja nicht ganz überraschend, wenn es Akteure gibt, auch politische Akteure, die selbst Fake News sehr intensiv im Mainstream verbreiten. Beispielsweise in den USA gibt es eine schöne Studie, die das kürzlich nachgewiesen hat. Und das heißt, dass Fake News uns alle angehen, weil sie uns alle ständig berühren und weil wir alle in Gesellschaften leben, die irgendwie damit zurechtkommen müssen. Fake News sind nicht mehr ein kleines Randproblem, sondern etwas, was uns jetzt in unserer demokratischen Praxis berührt und darin, wie wir Wissenschaft machen, darin, wie Politik gemacht wird, darin, wie öffentlich kommuniziert wird. Und ich glaube, es kann nur gelingen, Fake News – und ich will gar nicht sagen, in den Griff zu kriegen, ich glaube, das ist das falsche Bild – sondern mit Fake News in der Gesellschaft so umzugehen, dass sie uns insgesamt nicht schaden. Wenn wir das gemeinsam machen, wenn das viele tun, wenn das auch viele aus unterschiedlichen Perspektiven tun und aus ihrer jeweiligen fachlichen Ecke tun. Ich glaube nur dann kann das tatsächlich gelingen.

 

Es gibt im Digitalen vermehrt die Möglichkeit, selber zu senden – für Politiker, aber auch für Wissenschaftler, aber eben auch für Ideologen oder Populisten. Das ist die neue Situation und eigentlich war ja der Journalismus als Institution erfunden worden, um in diesem Wettbewerb das herauszufiltern, was relevant und wichtig ist. Das Verständnis dafür, dass es einen unabhängigen Beobachter, einen der einordnet, der das Wissen der Wissenschaft zertifiziert, das ist in Zeiten, wo jeder senden kann, nicht mehr so allgemein da.

Ich glaube, wir erleben eine ganz tiefe Transformation im Moment, weil jetzt eben ganz viele Leute ein Megafon in Händen halten. Und grundsätzlich bin ich jemand, der immer sagt: Die Pluralität von Stimmen ist eigentlich etwas Wertvolles und Gutes, aber wir haben zusätzlich zu den Menschen, die sich jetzt stärker äußern können, Plattformphänomene. Da wissen alle, die sich mit Fake News und mit massenmedialer Kommunikation insgesamt beschäftigen, dass wir Algorithmen haben, die gegen klassische Qualitätskriterien, also beispielsweise das Wahrheitskriterium verstoßen, einfach weil unwahre oder aufregende oder negative Neuigkeiten sehr viel mehr Aufmerksamkeit generieren. Das ist gut nachgewiesen und das finde ich extrem bedenklich, denn das ist kein fairer Austausch. Aber der Journalismus, der hat sich immer wieder neu erfunden, da kamen immer wieder neue Medien über die vergangenen Jahrhunderte dazu und das hat immer irgendwie funktioniert, dass man das mit eingebunden hat, dass man breiter geworden ist und so weiter und so fort. Aber gegen die Macht der Algorithmen kommt man doch sehr viel schwerer an, vor allem gegen die Marktmacht bestimmter Plattformen, das muss man einfach so formulieren. Da entsteht natürlich ein Gefälle und das in einer Geschwindigkeit, in kurzer Zeit, wie wir es wohl noch nie gesehen haben.

 
 

Das ist ja auch deswegen bedenklich, weil sowohl die Wissenschaft als auch der Journalismus, sofern sie sich der Wahrhaftigkeit verpflichtet fühlen, natürlich oft mit dem Publikum reiben werden. Die Wissenschaft hat Botschaften, im Publikum nicht gleich akzeptiert werden. Es kann gegen tiefe Vorurteile, Emotionen verstoßen, was die Wissenschaft herausfindet. Beim Journalismus ist das auch so, er kann unangenehme Dinge ans Tageslicht bringen, die die Menschen verstören, nicht hören wollen. Und trotzdem ist es wichtig, das beides zu tun. Deshalb haben wir ja auch diese Aktion gestartet. Dieses Heraustreten aus der Tür heißt bei »Together for Fact News« ja auch, dass wir in dieser Zeit, Sie haben es ja sehr schön beschrieben, uns auch bekennen müssen dazu, dass wir verlässliches Wissen wollen in der Wissenschaft, aber auch in der Öffentlichkeit, und dass wir dafür eintreten müssen, und dass das auch wiederum zum Risiko geworden ist. Man sieht es ja an den USA. Forscher, die dort praktisch Widerspruch leisten oder einfach verlässliches Wissen äußern, werden vom US Präsidenten attackiert, der seine eigene Wirklichkeit schaffen will.

Genau, deswegen ist das so wichtig und deswegen möchte ich das nochmal betonen, das Zusammen. Wir haben auch in Deutschland das Ideal des Genies, die eine Person, die die Lösung formuliert. Aber mit diesen neuen Transformationen in der Gesellschaft umzugehen, das kann nur gelingen, wenn es mehrere beziehungsweise viele Stimmen sind. Also, wenn nicht einer den Zeigefinger hebt und sagt, passt auf, ihr müsst wirklich auf Wahrheit wieder etwas mehr achten. Sondern wenn aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven unterschiedliche Personen und Persönlichkeiten in unterschiedlicher Art und Weise in diese Richtung kommunizieren, damit sich da eine Verdichtung und eine Überlappung ergibt. Und deswegen glaube ich auch, gibt es nicht diesen einen Weg, Fake News aus der Welt zu schaffen oder in den Griff zu kriegen. Deswegen halte ich das für ganz, ganz wichtig, dass das etwas ist, was auf einer breiten Basis steht.

Wir sitzen ja hier im Futurium, es nennt sich das »Haus der Zukünfte«, Plural. Kommen Sie als Ethikerin gerne hierher zur Inspiration?

Ich mag das Futurium. Nicht nur für Familien ist das ein wunderbarer Ort. Und ich persönlich muss sagen, ich habe mich schon immer sehr angesprochen gefühlt von interdisziplinär und ambitioniert gestalteten Ausstellungsräumen, die es schaffen, Wissenschaft mit gesellschaftlichen Aspekten zu verknüpfen, das ist einer meiner absoluten Lieblingsorte in Berlin.

 
 

Es gibt ein Unbehagen an der Zukunft, am wachsenden Tempo der Forschung. Nehmen wir die moderne Reproduktionsmedizin: Könnten wir nicht auch irgendwann Leben außerhalb des Mutterleibs heranzüchten? Wie ist das bei Ihnen als Ethikerin mit dem Unbehagen an der Forschung. Wo wir erst einmal sagen, um Gottes Willen, ist das wirklich eine gute Idee?

Das ist eine interessante Frage, weil man sich das als Medizinethikerin natürlich zu einem gewissen Grad abgewöhnt. Ich arbeite auch zur Ethik von Gesundheitstechnologien, ich bin ständig in der Technologieentwicklung unterwegs und bin in verschiedenen Forschungskonsortien zu Hause, in denen es wirklich an der Grenze der Forschung weitergeht. Und dann gewöhnt man sich natürlich daran und vergisst so ein wenig, wie außergewöhnlich das zum Teil ist, was da gemacht wird. Es ist ganz wichtig, sich daran wieder zu erinnern, dass bestimmte Forschungsergebnisse Menschen Angst machen. Und ich glaube, was da funktioniert, ist einfach immer wieder zu erklären. Was sind die Schritte, also wo kommt dein Unbehagen her? Kommt dein Unbehagen einfach daher, dass du diesen Weg nicht nachvollziehen kannst, wie kommen wir jetzt von einem ganz normalen Baby im Mutterleib zu der Idee, das Baby könnte außerhalb des Mutterleibes heranwachsen? Ist da eher das Problem, dass du dir überhaupt nicht vorstellen kannst, wie sowas aussehen sollte, wie so etwas funktionieren könnte. Oder ist da ein ethisches Unbehagen, dass du die Idee als solche ganz unabhängig davon, wie das funktioniert, problematisch findest? Das sind ja zwei ganz, ganz unterschiedliche Formen von Unbehagen. Da ist mein Fach zuhause, das ist etwas, was wir die ganze Zeit tun, das wir untersuchen, Argumente für oder gegen eine Entwicklung prüfen, gleichzeitig auch affektive Reaktionen ernst nehmen, die es geben kann. Das hat sogar einen Namen in der Medizinethik. Das nennt sich der `Yuck Factor`. Das ist ein ganz gut untersuchtes Phänomen, das es bei bestimmten biomedizinischen, biotechnologischen Entwicklungen so eine Abwehr geben kann. Die man messen kann und hinter der sich ganz viel Unterschiedliches verstecken kann.

Gibt es für Sie als Ethikerin rote Linien in der Forschung?

Natürlich gibt es immer rote Linien. Aber Menschen haben zugleich immer schon über verrückte wissenschaftliche Entwicklungen nachgedacht. Das Thema haben wir ja in der utopischen Literatur seit vielen Jahrhunderten. Und das spielt natürlich mit dieser Faszination auf der einen Seite und der Angst auf der anderen Seite. Wichtig ist, dass wir verstehen, bloß weil es ein Unbehagen gibt, verläuft da nicht unbedingt eine rote Linie. Und rote Linien können umgekehrt dort verlaufen, wo kaum Unbehagen verspürt wird. Ob da also jeweils eine rote Linie verläuft, das müssen wir erst herausfinden. Und da ist ein initiales, instinktives Unbehagen der Beginn eines Prozesses und ganz sicher nicht das Ende.

Interview als PDF (2,5 MB)